Ethik-Kodex der Arbeitsmedizin

 

Der Ethik-Kodex der Arbeitsmedizin wurde im Februar 2009 vom Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsmedizin und Umweltmedizin e. V. (DGAUM) und vom Präsidium des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte e. V. (VDBW) verabschiedet:

 

Präambel

Der Ethikkodex richtet sich an alle mit arbeitsmedizinischen Aufgaben betraute Ärzte1, Wissenschaftler und Mitarbeiter in medizinischen Assistenzberufen. Die Arbeitsmedizin ist die medizinische, vorwiegend präventiv orientierte Fachdisziplin, die sich mit der Untersuchung, Bewertung, Begutachtung und Beeinflussung der Wechselbeziehungen zwischen Anforderungen, Bedingungen, Organisation der Arbeit einerseits sowie dem Menschen, seiner Gesundheit, seiner Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit und seinen Krankheiten andererseits befasst.
 
Die Ziele der Arbeitsmedizin bestehen in der Förderung und Erhaltung von Gesundheit, der Früherkennung von insbesondere arbeitsplatzassoziierten Gesundheitsbeeinträchtigungen und der Mitwirkung bei der Wiederherstellung der Gesundheit sowie der Arbeits- und Beschäftigungsfähigkeit des Menschen. Dies geschieht z. B. durch gezielte arbeitsmedizinisch-toxikologische, -epidemiologische, -psychosoziale Forschungen, in der Praxis durch ein möglichst umfassendes „betriebliches Gesundheitsmanagement“, welches die betriebliche Gesundheitsförderung unter Einbeziehung aller Beteiligten einschließt. Die Arbeitsmedizin stützt sich dabei auf eine individuelle, ganzheitliche Betrachtung des arbeitenden Menschen mit Berücksichtigung somatischer, psychischer und sozialer Prozesse und der Belastung und Beanspruchung am speziellen Arbeitsplatz. Sie handelt auf der  Grundlage eines wissenschaftlich begründeten medizinischen Methodeninventars und nutzt auch Erkenntnisse und Methoden anderer Wissenschaftsdisziplinen.

Der Arbeitsmediziner in seinen vielfältigen Funktionen, z. B. als Gewerbearzt, Arzt in Behörden und Berufsgenossenschaften, insbesondere aber als Betriebsarzt, steht im Spannungsfeld zwischen Arbeitgeber und betreuten Arbeitnehmern. Es ist nicht möglich, konkrete ethische Handlungsanleitungen für jede möglicherweise problematische berufliche Situation anzubieten. Vielmehr soll der Ethikkodex dem Einzelnen eine Orientierung  geben, welche ethischen Forderungen in seinem jeweiligen Aufgaben- und Verantwortungsbereich relevant sein  können und als Grundlage für die Zusammenarbeit mit allen Partnern im Bereich des Gesundheitsschutzes am Arbeitsplatz dienen. Der Ethikkodex verdeutlicht die Verantwortung der die Arbeitsmedizin tragenden  Gesellschaften in der Unterstützung des Einzelnen.

*Aus Gründen der leichteren Lesbarkeit wird einheitlich die maskuline Form verwendet, gemeint sind jedoch immer beide Geschlechter.

 

Art. 1 Auftrag der Arbeitsmedizin

Die in der Arbeitsmedizin Tätigen wirken aktiv auf eine gesundheitsgerechte Gestaltung der Arbeit und ein gesundheitsorientiertes Verhalten der Beschäftigten hin.

Sie arbeiten dabei mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern, staatlichen Aufsichtsorganen, der gesetzlichen Unfallversicherung, der gesetzlichen Krankenversicherung und politischen Gremien zusammen, um Krankheiten im Kontext der Arbeit vorzubeugen, zu heilen und zu lindern sowie deren Ursachen und Wirkungen besser zu verstehen und Arbeitsbedingungen gesundheitsförderlich zu gestalten. Hierbei arbeiten sie mit anderen betrieblichen und außerbetrieblichen Akteuren zusammen, die für den Arbeits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz relevant sein können.
Solche weiteren Akteure können sein (beispielhaft, nicht vollzählig): Hausärzte oder weitere Fachärzte, Führungskräfte, Planungsingenieure, Verfahrenstechniker, Sicherheitstechniker, Arbeitswissenschaftler u. a. Dabei stehen die Förderung der Gesundheit, die Primär- (Schadensverhütung), Sekundär- (Schadensbegrenzung/Früherkennung) und Tertiärprävention (Rehabilitation) sowie die Sicherheit am Arbeitsplatz für die ihnen anvertrauten Arbeitnehmer im Mittelpunkt aller ihrer Bemühungen. Unter Einbeziehung der psychischen und psychosozialen Gesundheit wird der Mensch stets ganzheitlich betrachtet.

 

Art. 2 Medizinethische Kompetenz

Mit arbeitsmedizinischen Aufgaben betraute Ärzte, Wissenschaftler und Mitarbeiter in medizinischen Assistenzberufen verpflichten sich, die international allgemein anerkannten ethischen Fundamente, wie sie in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland2 formuliert sind, unbedingt zu wahren sowie die speziellen ethischen Prinzipien der Medizin in ihrem beruflichen Handeln sorgfältig zu beachten. Es gilt der Gleichbehandlungsgrundsatz.

*Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verkündet am 10. 12. 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23. Mai 1949 (BGBl. S. 1), zuletzt geändert durch Gesetz vom 28. August 2006 (BGBl. I S. 2034).

*Musterberufsordnung für Ärzte, Weltärztebund: Deklaration von Genf 1948/1994), Weltärztebund: Deklaration von Helsinki „Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Manschen“ 1964/2004, Weltärztebund: Erklärung zum Verhältnis von Ärzten und Wirtschaftsunternehmen, Tokio 2004, Weltärztebund: „Erklärung zu Sicherheit am Arbeitsplatz“ Budapest 1993, „Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz vom 14. August 2006 (BGBl. I S. 1897), zuletzt geändert durch Artikel 19 Abs. 10 des Gesetzes vom 12. Dezember 2007 (BGBl. I S. 2840)“.

 

Art. 3 Fachkompetenz

Die in der Arbeitsmedizin Tätigen erwerben als Voraussetzung für verantwortungsvolles berufliches Handeln ihre Fachkompetenz nach dem Stand von Wissenschaft und Technik4, entwickeln diese ständig weiter und erkennen die Grenzen ihrer Kompetenz. Sie berücksichtigen die aktuellen medizinischen und ethischen Leitlinien und Ergebnisse der evidenzbasierten Medizin. Der Betriebsarzt kennt die Arbeitsplätze aus eigener Anschauung und begeht diese regelmäßig. Die arbeitsmedizinische Betreuung der Arbeitnehmer und Betriebe erfolgt gefährdungs- und situationsgerecht sowie weisungsfrei. Rechtsgrundlage für die Positionierung bildet das Arbeitssicherheitsgesetz (ASIG).
 
*Stand von Wissenschaft und Technik:
Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff „Stand von Wissenschaft und Technik“ in mehreren Grundsatzentscheidungen in drei Stufen konkretisiert:

  • 1. Stufe: Allgemein anerkannte Regeln der Technik
    Eine Regel ist dann allgemein anerkannt, wenn sie der herrschenden Meinung der Praktiker eines Fachgebiets entspricht und dies auch dokumentiert ist. Eine starke Vermutung für die allgemeine Anerkennung besteht, wenn z. B. DIN- oder ISO-Normen für das Problem existieren.
  • 2. Stufe: Stand der Technik
    Die notwendigen Maßnahmen orientieren sich am technisch Machbaren, auch wenn dies über das Übliche hinausgeht.
  • 3. Stufe: Stand von Wissenschaft und Technik
    Geboten ist, was nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen für erforderlich gehalten wird. Das jeweils Erforderliche wird also nicht durch das technisch gegenwärtig Machbare begrenzt.
  •  

Art. 4 Befundweitergabe und Fürsorge

Die zu betreuenden Arbeitnehmer und Patienten sind über die ärztlichen Untersuchungen umfassend zu informieren, die Ergebnisse sind ihnen mitzuteilen. Die in der Arbeitsmedizin Tätigen und ihre Mitarbeiter unterliegen der Schweigepflicht. Sie achten auf die Vertraulichkeit der ihnen anvertrauten Informationen und beachten den Datenschutz insbesondere auch die persönlichen Daten der Arbeitnehmer.

Art. 5 Kommunikative Kompetenz

Die in der Arbeitsmedizin Tätigen sind bereit, die Rechte und Interessen der verschiedenen betroffenen Personen und Institutionen zu verstehen, zu berücksichtigen und in interdisziplinären Arbeitsschutzgremien mitzuwirken. Sie stellen medizinische Zusammenhänge allgemeinverständlich dar und wirken durch Mediation bei Interessenskonflikten. Sie informieren sowohl über ihre Erkenntnisse, als auch über die Art und Weise, in der gewährleistet wird, dass die Arbeitnehmerrechte in der betrieblichen Prävention berücksichtigt werden.

Art. 6 Rechtskompetenz

In der Arbeitsmedizin Tätige kennen die für ihren Aufgaben- und Verantwortungsbereich einschlägigen rechtlichen Regelungen, beachten diese bei ihrem beruflichen Handeln und wirken darüber hinaus auch an ihrer Weiterentwicklung mit. Sie dürfen dabei keine Grundsätze anerkennen und keine Vorschriften oder Anweisungen beachten, die mit ihren Aufgaben nicht vereinbar sind oder deren Befolgung sie nicht verantworten können. Sie dürfen hinsichtlich ihrer ärztlichen Entscheidungen keine Weisungen von Nichtärzten entgegennehmen.

Art. 7 Soziale Verantwortung

Die in der Arbeitsmedizin Tätigen reflektieren die voraussichtlichen Folgen ihres beruflichen Handelns im Hinblick auf mögliche individuelle und gesellschaftliche Auswirkungen5. Im Vordergrund steht hierbei die Gesundheit der ihnen anvertrauten Menschen. Wirtschaftliche Erwägungen haben keinen Vorrang vor Sicherheit und Gesundheit. Soweit Arbeitsmediziner an Unternehmensentscheidungen mit gesundheitlicher Relevanz beteiligt werden, übernehmen sie eine Mitverantwortung für diese Entscheidungen.
 
*Gesellschaftliche Auswirkungen der Arbeitsmedizin betreffen unter anderem

  • Gesundheitsschutz und Prävention (öffentliche Gesundheit)
  • die Volkswirtschaft durch induzierte Regelungen für Arbeits- und Produktionsprozesse im Arbeitsschutz
  • Kosten für soziale Sicherungssysteme

Art. 8 Organisationsstrukturen und Beteiligung

Die in der Arbeitsmedizin Tätigen treten aktiv für Organisationsstrukturen und Möglichkeiten zur Diskussion ein, welche die Übernahme individueller und gemeinschaftlicher Verantwortung ermöglichen. In betreuten Betrieben beziehen Arbeitsmediziner die Belegschaft und ihre gewählten Vertreter aktiv in die Weiterentwicklung der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention ein. Sie fördern die Zusammenarbeit mit Arbeitgeber, Sicherheitsfachkraft sowie Betriebsrat zur Umsetzung von Arbeitsschutzmaßnahmen und nutzen den direkten Zugang zur Geschäftsleitung.
Sie tragen dafür Sorge, dass Arbeitsprozesse und Arbeitsergebnisse systematisch im Hinblick auf ethische Leitlinien überprüft werden.

 

Art. 9 Aus-, Weiter- und Fortbildung

Arbeitsmediziner, die in der Aus-, Weiter- und Fortbildung tätig sind, vermitteln ihre Kenntnisse und Fertigkeiten bezüglich arbeitsbedingter Einflüsse auf die Gesundheit, bereiten die Lernenden auf deren individuelle und gemeinschaftliche Verantwortung in der Arbeitsmedizin vor und sind selbst Vorbild. Alle in der Arbeitsmedizin Tätigen erweitern ihren eigenen Wissensstand durch Fortbildungen und eignen sich neue wissenschaftliche Erkenntnisse und für ihr Aufgabengebiet relevante gesetzliche Verordnungen an.

 

Art. 10 Forschung

In der Arbeitsmedizin Tätige halten die allgemeinen Regeln des guten wissenschaftlichen Arbeitens ein und bringen ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse und Möglichkeiten der Präventionsforschung in der Arbeitswelt ein.6 Insbesondere sind präventiv und therapeutisch nutzbare medizinische Daten sowohl in der betriebsärztlichen Praxis als auch von arbeitsmedizinisch wissenschaftlichen Einrichtungen systematisch zu erwerben, die daraus gewonnenen Erkenntnisse der Allgemeinheit zugänglich zu machen und in die Politikberatung einzubringen. Dies erfordert eine breite Kooperation mit anderen Fachdisziplinen. Auf eine effiziente Umsetzung der Erkenntnisse ist hinzuwirken.
 
Dazu gehören insbesondere Offenheit und Transparenz, Fähigkeit zur Äußerung und Akzeptanz von Kritik sowie die Bereitschaft, die Auswirkungen der eigenen wissenschaftlichen Arbeit im Forschungsprozess zu thematisieren.
Gutes wissenschaftliches Arbeiten erfordert die Einhaltung der folgenden Normen:

  • Skeptizismus: Jede wissenschaftliche Hypothese muss angezweifelt werden und gilt so lange als fragwürdig, bis alle erdenklichen Einwände dagegen geprüft und verworfen worden sind.
  • Universalismus: Wahrheitsansprüche dürfen nur für Aussagen erhoben werden, die auf der Grundlage allgemein geltender Prüfkriterien aufgestellt wurden.
  • Neutralität: Der Forscher muss dem Inhalt seiner Forschungsergebnisse gegenüber insofern indifferent sein, als dass er keine Präferenz für die Bestätigung oder Widerlegung seiner Hypothese haben darf.
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Art. 11 Arbeitsverhältnisse und Interessenkonflikte

In der Arbeitsmedizin Tätige gehen nur Arbeitsverhältnisse ein, in denen sie ihre Aufgaben entsprechend ihrer fachlichen und ethischen Prinzipien durchführen können. Eine Ethik-Klausel soll Gegenstand des Arbeitsvertrages sein. In dieser soll der gemeinsame Ethikkodex der DGAUM und des VDBW als Bestandteil des Vertrages festgelegt werden. Interessenkonflikte, die die unabhängige Aufgabenwahrnehmung (z. B. Beraterverträge) tangieren, müssen den Betroffenen gegenüber (z. B. Arbeitgebern, Arbeitnehmern, Arbeitsschutzgremien, Forschungsförderern) angezeigt werden.

 

Art. 12 Zivilcourage

Arbeitsmediziner handeln in Situationen, in denen an sie gestellte Anforderungen in Konflikt mit medizinischen und ethischen Leitlinien stehen, mit Fachwissen und Zivilcourage.

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© Ines Lindenau by Dr. Sylvia Pautsch - Praxis für Arbeitsmedizin